Aus dem Turm: Als ich mich selbst verlor und fast verschwand

09.06.2025

Ich dachte lange, ich sei einfach sensibel. Oder schwierig. Oder widersprüchlich.
Heute denke ich: Ich war Projektionsfläche für das ungelebte oder unverarbeitete Trauma einer Bezugsperson – und als ich selbst Mutter wurde, kam all das zurück. Nicht, weil ich zurückwollte, sondern weil ich endlich bereit war, mich dort abzuholen, wo ich mich einst verloren hatte.

Die Geschichte, die nie meine war

Meine Pflegemutter begleitete mich durch die Jahre der Pubertät – ein Weg, der geprägt war von Nähe und Kontrolle, von Fürsorge und Erwartung.

Ich erinnere mich daran, dass sie mir oft das Gefühl gab, nicht zu genügen – weder in dem, was ich tat, noch darin, wie ich war. Diese Wahrnehmung war schmerzhaft. Aber ich weiß heute: Es war meine Perspektive. Vielleicht handelte sie in manchen Momenten anders, als es mir damals erschien.

Ich spürte jedoch, wie ich in ein Netz aus Erwartungen und Zuschreibungen geriet. Vieles, was aus mir selbst kam, wurde hinterfragt oder entwertet. Eigenständigkeit wurde zur Herausforderung.

Ich wurde Teil eines inneren Dramas: die, die vermeintlich im Unrecht war. Während sie sich selbst in einer beschützenden Rolle sah – wie eine Figur in einem Märchen. Der Schutz jedoch wurde zum Turm. Ein sicher gemeinter Rahmen, der sich für mich wie ein Gefängnis anfühlte.

Der Wunsch nach Freiheit war da, aber ich durfte ihn nur leben, wenn ich ihre Geschichte weiterschrieb.

Erst als ich für ein Studium weit wegzog, wurde ich zur Vorzeigetochter. Endlich passte ich ins Bild. Doch ich konnte es nicht halten. Ich ging auch dort wieder – und blieb mit der Frage zurück:
Was will ich eigentlich?

Schwangerschaft als Rückkehr

Viele Jahre später, schwanger mit meinem ersten Kind, spürte ich erneut dieses Gefühl – als sei ich umgeben von Erwartungen, die mir nicht guttaten. Diesmal war es im erweiterten Familienkreis, der mich mit eigenen Vorstellungen konfrontierte.

Ich nahm Verhalten wahr, das sich für mich manipulativ oder übergriffig anfühlte. Gleichzeitig erkannte ich: Nicht alles war neu. Vieles davon lebte noch in mir. Die alten Muster waren nicht verschwunden.

Ich verstand:
Ich trug die Vergangenheit noch in mir.
Ich reagierte nicht nur auf das Jetzt – sondern auch auf das Damals.

Die innere Pflegemutter

Als in meinem Umfeld bestimmte Entscheidungen, etwa meine Ernährung in der Schwangerschaft, auf Widerstand stießen, spürte ich alte Muster wieder aufleben.

Ich wollte mein Kind schützen – aber reagierte mit Rückzug und Härte, anstatt mit Klarheit. Ich erkannte in mir Verhaltensweisen, die mir vertraut waren – aber nicht ursprünglich meine waren.

Als mein Partner sich in einer kleinen, aber symbolischen Situation (es ging um Zucker für unser Kind) nicht an ein Versprechen hielt, war es, als würde etwas in mir aufbrechen. Die Enttäuschung war real – aber der Schmerz dahinter war älter. Tief verwurzelt.

Die alte Geschichte begann laut zu werden. Sie hatte sich vielleicht schon lange in meinem Körper (auch in Form von Symptomen) gezeigt – doch jetzt sprach sie. Und ich begann zu hören.

Das innere Kind – allein im Kampf

In mir sehe ich ein kleines Kind.
Allein, umgeben von Menschen, die sich scheinbar gegen es verbünden.
Es hat keine Sprache. Keine sichere Hand.
Nur Tränen, Wut, Überleben.

Dieses Kind kämpft heute nicht mehr gegen reale Personen.
Es kämpft gegen Bilder. Gegen alte Narrative.

Aber heute bin ich da.
Ich sehe es. Ich halte es.
Und ich beginne, den Kampf loszulassen.

Die zarten Momente

Es gibt sie – diese stillen, kraftvollen Augenblicke, in denen ich mir selbst näherkomme.
Wenn ich Entscheidungen treffe, die sich aus mir heraus richtig anfühlen.
Zum Beispiel meine Ernährung. Oder der achtsame Umgang mit meinem Körper.
Auch wenn andere es nicht verstehen – ich beginne, mir zu vertrauen.

Diese Momente sind nicht laut, nicht dramatisch.
Aber sie sind wahr. Und weiblich. Und stark.

Rapunzel und die Wahrheit

Ich sehe das Bild: Rapunzel im Turm.
Die Figur, die sie dort hält, spricht von Schutz und Sorge – doch dahinter liegen Kontrolle und Angst.

Die Haare – Symbol für Verbindung und Kraft – werden abgeschnitten.
Und erst im Schmerz, in der Trennung, im Alleinsein findet Rapunzel zu sich selbst.

Auch ich schneide heute alte Bindungen.
Nicht aus Trotz, sondern aus Klarheit.
Nicht aus Wut, sondern aus Wahrheit.

Ich will keine Geschichten mehr leben, die nicht meine sind.
Ich will kein Kind mehr sein, das gegen Mauern rennt.
Ich will nicht in inneren Festungen wohnen.

Ich will mir selbst glauben dürfen.

Abschließend

Ich bin nicht die Heldin. Und nicht das Opfer.
Ich bin ein Mensch auf dem Weg.
Und ich schreibe meine Geschichte neu.

Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Jugend & innereStärke]
Mehr über die Jugend hier: Der Preis der Anpassung – Wie Kontrolle sich wie Liebe anfühlte