Der Geschmack von Liebe – und der bittere Nachgeschmack
Es gibt Geschichten, die sich nicht in Daten und Fakten erzählen lassen. Es sind innere Landschaften, gespeist von Empfindungen, Körpererinnerungen, und tief eingegrabenen Prägungen. Diese Geschichte ist meine – und vielleicht auch deine.
Ich bin aufgewachsen in einem Pflegeverhältnis, das von Widersprüchen durchzogen war. Es gab da eine Frau, nennen wir sie "E." – sie rettete mich, nahm mich auf. Doch ihre Hilfe hatte einen Preis. Emotionaler Druck, psychische Erpressung – in einer Weise, die sich in kein offizielles Protokoll fassen lässt, aber in meinem Körper bis heute lebt.
Dann war da ihr Partner, nennen wir ihn "K." – ein liebevoller Mann, warm, echt, bedingungslos. Er schenkte mir täglich große Mengen Süßigkeiten. Es war seine Art, Liebe zu zeigen. Ich saß oft allein vor dem Fernseher, Zucker in der Hand, Liebe im Magen, Leere im Herzen. Damals wusste niemand, wie tief sich diese Geste einprägen würde. Ich war nicht besonders übergewichtig, nicht auffällig – das kam erst später, nach Diäten, Verzicht, Selbsthass.
Erst viel später – Jahrzehnte später – begann ich zu verstehen, was da in mir abgespeichert war: Zucker als Bindung. Zucker als Zuneigung. Zucker als Trost. Und jede Ablehnung von Zucker fühlte sich an wie eine Ablehnung dieser frühen Form von Liebe. Das Muster war tief. Doch ich begann, mich daraus zu befreien.
Ich fand zur instinktiven Ernährung – für mich bedeutete das radikale Rohkost, intuitiv, ohne Dogma, sogar mit tierischen Anteilen. Mein Körper blühte auf. Ich wurde schlank, wach, klar. Mein Nervensystem regulierte sich. Mein Geist wurde stiller. Doch mein Umfeld reagierte heftig. Besonders die Familie meines damaligen Partners – stark übergewichtig, schwerkrank, tief verstrickt in Abhängigkeiten – fühlte sich provoziert. Nicht durch Worte, sondern durch mein Sein. Ich war das Gegenteil ihres Selbstbildes. Und das wurde zur Bedrohung.
Plötzlich war ich nicht mehr "nur ich" – ich wurde Projektionsfläche. Die alte Rolle, die man mir schon als Kind zugewiesen hatte: "die Schwierige", "die Rebellin", "die Undankbare", kam zurück. Ich wurde beschämt, untergraben, sabotiert. Und mein Partner? Er stellte sich nicht schützend vor mich. Im Gegenteil: Er trug den Zucker in unser Zuhause. Trotz Bitten, Erklärungen, Tränen. Wieder wurde mein Nein übergangen. Wieder wurde meine Integrität verletzt.
Heute erkenne ich: Der Schmerz war nicht neu. Es war der gleiche Schmerz wie damals. Die gleiche Verletzung. Ich war zurück in der Rolle des Kindes, das nicht bestimmen darf, was in seinen Körper gelangt. Das wieder gezwungen wird, etwas zu "essen", das ihm schadet. Ich war wieder allein mit meinem inneren Schutzreflex – gegen ein ganzes System.
Aber diesmal blieb ich nicht stumm.
Ich begann, Nein zu sagen. Laut. Klar. Ich begann, mein inneres Kind zu halten – nicht mit Schokolade, sondern mit Präsenz. Ich ließ die Trauer zu, die Wut, das Bedürfnis nach Kontrolle, das ich so lange verachtet hatte. Ich erkannte: Es ist ein gesunder Teil von mir. Ein Schutzmechanismus. Eine Antwort auf Grenzverletzungen.
Heute bin ich nicht mehr im Kampf. Nicht mehr gegen Zucker, gegen Menschen, gegen mich selbst. Ich bin im Prozess der Integration. Ich weiß: Heilung ist kein gerader Weg. Es ist ein Tanz. Mal roh, mal gekocht. Mal ekstatisch, mal erschöpft. Mal kämpfend, mal loslassend.
Aber immer ehrlich.
Vielleicht liest das hier jemand, der sich wiedererkennt. Vielleicht hast du auch gelernt, dass Liebe eine Gegenleistung verlangt. Vielleicht kämpfst du gerade mit einem Körper, der mehr weiß als dein Verstand.
Dann will ich dir sagen: Du bist nicht falsch. Du bist nicht allein. Und du darfst Nein sagen – auch zu dem, was einmal wie Liebe aussah.
– Eine, die gelernt hat, ihre eigene Nahrung zu wählen
Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Partnerschaft & Eltern sein - Wir statt Ich]
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