Der Muttertagskuchen, den ich nicht mehr esse

11.05.2025

Eine persönliche Geschichte über Grenzen, Schuldgefühle – und echte Verbindung

Muttertag.
Der Tisch ist gedeckt, kleine Hände reichen mir einen selbstgebackenen Kuchen. Topfencreme, bunte Streusel, leuchtende Kinderaugen. Es ist ein liebevoller Moment – und gleichzeitig spüre ich tief in mir: Ich will das nicht essen.

Ich hasse Kuchen. Nicht im Sinne von "mag ich nicht so gern". Sondern auf einer tieferen Ebene.
Zucker hat für mich nichts mit Freude zu tun – sondern mit Ohnmacht. Mit alten Wunden. Mit Zwang.

🍽️ Wenn Essen zum Machtspiel wurde – und ich nicht mehr mitspielte

Ich bin aufgewachsen mit einer sehr strengen Pflegemutter, die mein Nein nie gelten ließ. "Du isst, was auf den Tisch kommt." Punkt. Kein Raum für Ekel, kein Raum für Geschmack, kein Raum für mich. Für mich fühlte sich das Essen oft wie ein Machtspiel an, bei dem meine Bedürfnisse keine Rolle spielten.

Später, wiederholte sich das Muster häufig. Mal verstand ich die Sprache nicht gut genug, um mich klar zu wehren. Als ich höflich ablehnte, brach jemand in Tränen aus und verließ den Raum. Eine emotional überfordernde Szene – nicht wegen des Essens, sondern wegen der Wahrnehmung, dass ich durch mein Nein Grausamkeit ausstrahlte

Ich fühlte mich nicht einfach schuldig – ich sollte mich schuldig fühlen.
Aber ich ließ es nicht zu. Ich wehrte mich. Ich sprach mit meinem Partner. Ich sagte:

"Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Das ist nicht meine Grenze – ich halte das für ihr Spiel.

Doch der Konflikt blieb nicht dort am Tisch.
Er kam mit uns nach Hause.
Er tauchte wieder auf – subtil, offen, laut.
In Gesprächen, in Vorwürfen, im Schweigen.
Wir hatten keine gemeinsame Sprache für das, was da wirklich passierte:
Ein tief verwurzelter Loyalitätskonflikt – meiner mit meiner Geschichte und ich nehme an, seiner mit seiner Mutter – fand seinen Weg in unsere Beziehung und beeinflusste unseren Konflikt auf lange Sicht. 

🤍 Heute bin ich Mutter – und ich will es anders machen

Ich erziehe meine Kinder bindungsorientiert. Ich möchte, dass sie ihre Grenzen spüren, ausdrücken und wahren dürfen. Ich sage ihnen: "Dein Körper gehört dir." Ich höre ihnen zu. Ich will sie nicht formen – ich will sie begleiten.

Aber was ist mit meinen Grenzen?

Als meine Kinder mir den Muttertagskuchen überreichen, passiert innerlich etwas:
Alte Stimmen flüstern: "Iss es, sonst enttäuschst du sie."
Mein Herz ruft: "Sag Danke – aber bleib ehrlich."
Und meine Geschichte fragt: "Traust du dich, jetzt bei dir zu bleiben?"

Der Loyalitätskonflikt

Ich habe lange geglaubt:

Wenn ich Nein sage, verletze ich andere – oder ich werde dafür bestraft.
Wenn ich nicht Nein sage, bestrafe ich mich selbst.

Dieser innere Konflikt lebt in mir. Ich kenne ihn gut. Und trotzdem beginne ich, ihn zu entwirren. Nicht mit Schuld. Sondern mit Klarheit.

Ich habe meinen Kindern Danke gesagt. Und Nein zum Kuchen.

Ich habe ihre Mühe gewürdigt. Ihre Liebe gespürt. Ich habe ein kleines Stück probiert – nicht aus Zwang, sondern aus Neugier. Ich habe meine Wahrheit ausgesprochen:

"Ich finde es wunderschön, was ihr gemacht habt. Aber Kuchen ist einfach nicht mein Lieblingsessen. Ich esse lieber mit dem Herzen – und das habt ihr mir heute voll geschenkt."

Sie haben mich angeschaut. Ein bisschen verwundert, aber nicht verletzt. Kein Drama. Keine Tränen. Kein Weglaufen.
Nur ein: "Okay, Mama. Aber wir lassen uns trotzdem ein Stück schmecken."
Natürlich :)

💬 Mein Fazit

Der Muttertagskuchen ist für mich heute ein Symbol.
Für den Unterschied zwischen Liebe annehmen und sich selbst verlieren.
Für das Recht, als Mutter Mensch zu bleiben – mit einem eigenen Geschmack, einer eigenen Geschichte, einem eigenen Nein.

Ich esse ihn nicht mehr. Und genau das ist ein Akt der Selbstfürsorge. Auch für mich selbst.

Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Mutterschaft - zwischen Liebe, Last und Lebenskraft]
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