Der Preis der Anpassung – Wie Kontrolle sich wie Liebe anfühlte
Ich war ungefähr acht oder neun, als ich zum ersten Mal spürte, dass Zuneigung nicht unbedingt bedingungslos sein muss. Bis dahin hatte ich geglaubt, meine Pflegemutter – die Frau, bei der ich lebte, als meine leibliche Mutter in eine Klinik musste – würde mich einfach lieben, so wie ich bin. In den ersten Jahren fühlte sich das bei ihr an wie Sicherheit: stabil, verlässlich, ruhig.
Aber irgendwann veränderte sich etwas. Vielleicht lag es an der Zeit, vielleicht an meiner wachsenden Eigenständigkeit – vielleicht war ich auch einfach nur ein Spiegel, der etwas in ihr berührte. Ich begann, mich mehr anzustrengen, um "richtig" zu sein. Mein Verhalten, meine Worte, selbst mein Gesichtsausdruck mussten stimmen. Ich lernte, Stimmungen zu lesen – fast zu gut. Ich wusste, wann ich leise sein musste. Wann ein Scherz unpassend war. Wann ich besser nichts sagte.
Ich lebte wie unter einer dünnen Eisschicht. Eine falsche Bewegung, und alles konnte brechen. Dabei war sie nicht grausam – eher unsicher. Und diese Unsicherheit übersetzte sich in Kontrolle: darüber, was ich trug, wie ich sprach, wen ich traf.
Es ging viel um den äußeren Eindruck. Um Normalität. Um Zugehörigkeit zu einer Welt, die uns nie ganz akzeptiert hatte. Ich war ein Teil dieser Geschichte, ein Puzzlestück in einem Bild, das nach außen hin stimmig wirken sollte. Ich wollte dazugehören – und sie wollte es auch. Manchmal erzählte sie sich selbst Geschichten, in denen alles "gut" war. Und ich spielte mit. Nicht aus Lüge – sondern weil ich dachte, das sei Liebe.
Wenn sie mich prüfend ansah, wollte ich gefallen. Nicht aus Eitelkeit. Aus Angst. Ich wollte nicht verlieren, was ich gewonnen hatte: ein Zuhause, ein Gegenüber, jemanden, der da ist. Also begann ich, mich anzupassen. Nicht nach meinem inneren Kompass – sondern nach ihrem. Ich wurde zu der, die sie brauchte, um sich selbst sicher zu fühlen.
Mit der Pubertät wurde alles schwieriger.
Ich war nicht mehr still.
Zuhause wurde ich laut – richtig laut. Ich widersprach, ich stritt, ich schlug Türen zu. Ich wehrte mich gegen das starre Bild, das sie von mir hatte – gegen Erwartungen, die ich nicht erfüllen konnte. Ich sollte vernünftig sein, ordentlich, freundlich. Aber in mir tobte es.
Ich konnte das aufgedrückte "Ich" nicht mehr mitspielen. Es passte nicht zu meinem Körper, nicht zu meinen Gedanken, nicht zu meinem Schmerz. Ihre Erwartungen fühlten sich an wie ein Korsett – geschnürt von jemandem, der selbst kaum atmen konnte. Und ich versuchte, es aufzureißen.
Wir stritten oft. Verletzend, hart, manchmal tagelang ohne Versöhnung. Ich fühlte mich schuldig, bevor ich überhaupt etwas gesagt hatte – und wütend, wenn ich schwieg. Ich kämpfte um Echtheit, während sie vor allem Harmonie wollte. Eine Version von mir, die in ihre Welt passte. Ich war nicht diese Version.
Draußen war ich jemand anderes. Ruhig, freundlich, angepasst. Ich lächelte, ich nickte, ich wusste, wie ich unauffällig mitlaufen konnte. Ich wollte dazugehören. Irgendwo dazugehören. Und wenn das bedeutete, mich zu verstellen – dann tat ich es.
Ich war zwei Ichs:
Ein angepasstes Mädchen im Außen.
Und eine rebellierende Jugendliche zu Hause, die darum kämpfte, gesehen zu werden – wirklich gesehen, nicht idealisiert.
Ich spürte, wie sehr ich sie gleichzeitig brauchte und ablehnte. Ich hörte mich Sätze sagen, die nicht meine waren – sondern ihre. Ich übernahm ihre Muster, ihre Art, sich zu erklären, sich zu schützen. Und während ein Teil von mir sich gegen ihre Kontrolle stellte, übernahm ich unbewusst Teile davon.
Ich verlor nicht nur den Halt in ihr – ich verlor auch den Blick auf mich selbst.
Ich war irgendwo zwischen Trotz und Theaterstück, zwischen Wahrheit und Maske.
Und ich konnte nicht die werden, die ich vielleicht hätte sein können:
Eine, die frei war. Widersprüchlich. Echt.
Ich hatte gelernt, dass Anpassung draußen schützt – und Rebellion drinnen notwendig ist, um nicht ganz zu verschwinden. Aber beides zusammen machte mich müde.
Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Jugend & innere Stärke]
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Aus dem Turm: Als ich mich selbst verlor und fast verschwand