Die gute Tochter - Wenn Loyalität zur Falle wird
Ich wollte nie stören.
Ich wollte richtig sein.
Ich wollte dazugehören – nicht im Rampenlicht stehen, aber auch nicht verloren gehen.
Ich wollte einfach das Gefühl haben: Ich bin willkommen, so wie ich bin.
Nur… ich war nicht so, wie man mich haben wollte.
Und so begann ich früh, mich zu verbiegen.
Lächeln, wenn es unpassend war. Schweigen, wenn ich hätte schreien müssen. Spuren lesen, bevor jemand wütend wurde.
Ich wurde eine Meisterin der Anpassung – aus Überlebensinstinkt. Aus Liebe. Aus Loyalität.
Denn ich war "die Gute".
Die, die funktioniert. Die, die nicht auffällt. Die, die alles mitträgt – auch das, was eigentlich zu schwer war für Kinderhände.
Aber irgendwann spürte ich: Ich kann nicht mehr.
Nicht, weil ich nicht wollte. Sondern weil ich mich selbst nicht mehr fand unter all den Schichten von Erwartung, Anpassung, Harmoniebedürfnis.
Ich erinnere mich an eine Szene in meiner Jugend, die sich eingebrannt hat.
Ich hatte etwas gesagt – etwas eigentlich Harmloses. Aber es passte nicht ins Bild. Und ihre Reaktion war eisig.
Nicht laut. Nicht grob. Aber messerscharf.
Ich zog mich zurück, wie immer. Ich haderte. Ich überlegte, wie ich es wieder gut machen könnte.
Wie ich wieder in ihre Gunst komme.
Denn ihr Schweigen bedeutete für mich: Gefahr.
Nicht körperlich. Aber emotional.
Ich konnte es nicht ertragen, nicht mehr "die Gute" zu sein.
Es war wie ein inneres Programm:
Wenn du enttäuschst, wirst du verlassen.
Wenn du widersprichst, bist du undankbar.
Wenn du anders bist, bist du falsch.
Jahre später, als ich begann, meine Geschichte aufzuschreiben, fiel mir auf, wie sehr mich diese Rolle geprägt hat.
Wie tief sie in mir verankert war.
Selbst als Erwachsene spürte ich noch diesen Reflex: Mach es allen recht. Sei brav. Sei leise. Sei hilfreich.
Aber ich war müde.
Müde vom Gefallenwollen.
Müde vom inneren Zerren zwischen Pflicht und Wahrheit.
Ich begann, Fragen zu stellen:
Wem diene ich eigentlich noch mit dieser Rolle?
Was passiert, wenn ich nicht mehr die Gute bin?
Was, wenn ich einfach ich bin – und das reicht?
Die Antwort war nicht leicht.
Denn nicht alle haben mich so genommen.
Manche haben sich abgewendet. Andere irritiert reagiert.
Aber ich bin geblieben.
Bei mir.
Zum ersten Mal in meinem Leben.
Heute weiß ich:
Loyalität ist kein Wert, wenn sie auf Selbstverleugnung basiert.
"Die gute Tochter" – das war ich.
Aber ich bin heute eine Frau, eine Mutter, ein Mensch mit einer eigenen Stimme.
Und ich darf sie benutzen.
Auch, wenn sie leise ist.
Auch, wenn sie wackelt.
Auch, wenn sie unbequem ist.
Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Jugend & innere Stärke]
➡️ Zum Weiterlesen hier: Der Preis der Anpassung – Wie Kontrolle sich wie Liebe anfühlte