Kurzschluss im Kopf - und Neubeginn

05.05.2025

Wie ein Schlaganfall mich zurück ins Leben rief

Ein Schlaganfall hat mein Leben nicht nur unterbrochen – er hat es aufgebrochen. Zwischen Funktionieren und Vergleichen fand ich zurück zu mir, Schritt für Schritt, fragil und klar zugleich. Heute gestalte ich meinen Raum neu – bewusst, nüchtern, lebendig. 

Ich weiß noch, wie ich es früher manchmal sagte:

"Irgendwann krieg ich noch einen Knall, wenn das so weitergeht."
Damals war das eine Floskel.
Heute weiß ich: Worte haben Kraft. Und manche erfüllen sich.

Nur dass es kein Witz mehr war.
Sondern Realität.
Ein Schlag.
Ein Schlaganfall.

Es war, als hätte sich das ganze Leben aufgestaut.
Die Erwartungen. Die Rollen. Die Ansprüche, denen ich gerecht zu werden versuchte – oft ohne zu wissen, wozu eigentlich.
Ich hatte das Gefühl, nicht wirklich gesehen zu werden.
Nicht als die, die ich bin.
Sondern als Teil eines Systems, das festgelegt hatte, wie man sich zu verhalten hat, was man zu leisten hat, wie man zu sein hat.

Ich funktionierte. 
Ich sagte mir, das müsse so sein.
Ich war schließlich "vernünftig", "zuverlässig", "stark".
Und innerlich sehr kaputt.

Die Wiederholung, die keine sein sollte

Ein Teil meiner Geschichte ist, dass ich früh getrennt wurde – von der Mutter, die mich geboren hat, und aufgewachsen bin bei einer anderen Frau, die für mich zur prägenden Bezugsperson wurde.
Zwei Welten. Zwei Frauen. Zwei Leben. 
Und doch wurde ich oft mit der einen gleichgesetzt – mit jener, deren Umgang mit Alkohol mich als Kind verunsichert hat und gleichzeitig zeigte die Pflegemutter mir, wie Alkohol auch in scheinbarer Kontrolle zum Alltag gehören konnte – funktionierend, aber nie ohne Wirkung.

Ich schwor mir, alles anders zu machen.
Ich wollte nicht wie sie werden.
Ich trank nicht. Lange Zeit.
Aber irgendwann kam der Moment, da griff ich doch zum Glas.
Nicht oft.
Nicht auffällig.
Aber ich wusste etwas war bei mir dennoch anders:
Ich trank nicht aus Flucht, sondern aus Loyalität, zu ihr, der anderen Bezugsperson in meinem Leben.
Erhabenheit machte sich kurzfristig breit.

Eine Flucht höchstens vor der Langeweile zuhause und dem Alleinsein und 
Vor dem ständigen Gefühl, nicht ich selbst sein zu können.

und dann kippte es. 

An jenem Morgen war es, als würde ein Blitz durch meinen Kopf fahren.
Ein Stromschlag in Gedankenform.
Und gleichzeitig ein Fluss, der zu viel wurde.
Zu viel Druck. Zu viel Flüssigkeit.
Ein medizinischer Notfall.
Ein Schlaganfall.

Ich erinnere mich an Stimmen, an Licht, an einen Körper, der plötzlich nicht mehr gehorchte.
Und gleichzeitig an einen Teil in mir, der sagte: "Jetzt oder nie."

Ich wurde gerettet. Und ich bin aufgewacht.

Körperlich hatte ich Glück.
Der Schaden war gering.
Aber seelisch – seelisch hatte dieser Schlag alles verschoben.

Ich funktionierte weiter.
Aber nicht mehr wie vorher.
Etwas in mir hatte sich entschlossen:
So nicht mehr.

Erinnerungen in Fragmenten

Seitdem kommt meine Geschichte in Teilen zurück.
Nicht mehr als lückenlose Erzählung.
Sondern als Splitter, als Bruchstücke.
Wegmarken auf einem Pfad, der mir sagt:
Du warst da. Und du bist weitergegangen.

Und ja, ich habe den Boden gesehen.
Den der Flasche – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn.
Und dort, ganz unten, war plötzlich Raum.
Nicht der Raum der Flucht.
Sondern der Raum der Entscheidung.

Ich bin doch die, die alles anders machen wollte. Und genau das darf ich jetzt tun.

Der stille Neubeginn

Ich glaube, dieser Schlag war kein Ende.
Er war ein Ruf.
Ein Riss im alten System.
Ein göttlicher Schnitt, der mich aus der Erschöpfung herausschälte.

Ich bin nicht "geheilt" im herkömmlichen Sinn.
Aber ich bin wach.
Und ich bin hier.

Heute trinke ich keinen Alkohol mehr.
Nicht, weil ich muss.
Sondern weil ich es darf.
Weil ich entschieden habe, hinzuschauen statt wegzusehen.
Weil ich begriffen habe:
Das Leben, das mich ruft, beginnt genau dort, wo ich ganz bei mir bin.

Raum für mich – jetzt

Ich nehme diesen neuen Raum ernst.
Ich gestalte ihn.
Mit neuen Entscheidungen.
Mit klaren Worten.
Mit leisen Grenzen.
Mit einem offenen Herzen.

Ich muss nicht mehr "die Starke" sein, um wertvoll zu sein.
Ich darf weich sein – und trotzdem ganz.
Ich darf mich neu erfinden – ohne Schuld.
Ich darf leben – nicht funktionieren.

Vielleicht hast du selbst schon an einem solchen Punkt gestanden.
Vielleicht kennst du das Gefühl, dich selbst zu verlieren in all dem, was andere in dir sehen wollen.
Dann ist vielleicht jetzt auch für dich ein Moment, innezuhalten.

Nicht weil du musst.
Sondern weil du darfst.

Der Schlag war laut. Aber was ich daraus mitnehme, ist Stille. Und darin: Wahrheit.

Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Meta & Rückschau]
zum Weiterlesen in dieser Kategorie: Das Familiensystem, das sich gegen mich stellte, als ich unbequem wurde