„Milchkarton und Würde – warum Basteln mein Nervensystem herausfordert“

18.05.2025

Es gibt Momente, da will ich einfach mit meinen Kindern basteln.
So richtig mit Herz, mit Freude, mit Leichtigkeit.
Einfach dasein, den Moment genießen, Verbindung spüren, lachen.
Aber dann steht da dieser leere Milchkarton. Oder eine Klopapierrolle.
Und plötzlich wird mein Inneres eiskalt.

Meine Finger frieren.
Mein Blick wird schmal.
In mir tobt ein Sturm aus Wut, Ekel, Scham und etwas, das sich schwer beschreiben lässt.
Ich nenne es: alte Angst in neuer Kleidung.

Kindheit und Kleberreste

Ich habe als Kind gebastelt – oder besser gesagt: ich habe versucht, zu basteln.
Unter der Aufsicht einer nahestehenden Bezugsperson aus meiner Kindheit.
Was dabei entstand, wurde nicht gewürdigt, sondern seziert.
"Was ist das für ein Scheiß", sagte sie. "Zu nichts zu gebrauchen."
Ich kann mich kaum erinnern, ob ich jemals etwas mit Stolz zeigen durfte.

Was ich aber weiß: Dass sich etwas in mir damals entschieden hat.
Dass ich nicht wieder so beschämt werden will.
Dass ich mich lieber perfektioniere, bevor ich mich jemals wieder so wertlos fühle.
Dass Chaos gefährlich ist.
Dass "selbstgemacht" schnell zu "nicht genug" wird.

Minimalismus und der unsichtbare Feind

Heute ist meine Wohnung aufgeräumt. Perfekt. Minimalistisch. Klar.
Ich habe alles optimiert – nicht aus Eitelkeit, sondern aus innerem Überlebenswillen.
Ordnung ist mein Anker.
Sie gibt mir ein Gefühl von Kontrolle über das, was ich als Kind nie kontrollieren konnte:
Ablehnung. Willkür. Scham.

Und dann steht da dieser Milchkarton,
in dem mein Kind voller Stolz ein Playmobil-Haus sieht.
Und ich? Ich sehe Müll.
Ich sehe Entwürdigung.
Ich sehe all die Momente, in denen ich gelernt habe:

"Wenn es nicht schön und ordentlich ist, bist du nichts wert."

Was mir hilft, wenn die Wut kommt

🟠 Ich erkenne an, dass meine Reaktion logisch ist – nicht falsch.
Wenn ich in Rage aufräume oder alles am liebsten wegschmeißen will, sage ich mir:

"Das ist kein Kontrollzwang. Das ist Schutzverhalten. Mein Nervensystem versucht, mich vor alter Scham zu retten."
Und das allein entgiftet schon einen Teil des Drucks.

🟠 Ich spreche mit der Stimme in mir, die Ordnung über alles stellt.
Ich stelle mir vor, sie sei eine wachsame Königin.
Ich sage ihr:

"Du hast mich so oft beschützt. Aber heute bin ich groß. Heute bin ich sicher. Heute darf es auch wild sein."

🟠 Ich erinnere mich an die Momente, in denen Kreativität sich sicher anfühlte.
Waldorfbasteln mit meinen Kindern, draußen im Wald. Laternen aus Laub.
Da durfte alles seinen Platz haben und frei sein.
Das war mein Nervensystem in Balance. Das war echtes Aufatmen.

Was mir hilft, wenn das Material mich triggert

🟢 Ich wähle bewusst "ungefährliches" Bastelmaterial.
Kein Verpackungsmüll. Keine chaotischen Plastikreste.
Sondern Naturmaterialien, Stoffreste, Dinge, die für mich ästhetisch sind.
Ich darf liebevoll zu mir sein – auch in der Auswahl.

🟢 Ich schaffe eine klare Grenze zwischen Kreativität und Ordnung.
Ein Tisch, ein Tablett, eine Kiste.
Nur dort wird gebastelt.
Danach wird gemeinsam aufgeräumt – nicht aus Zwang, sondern als Übergang in die Ruhe.

🟢 Ich beginne das Basteln mit einem Ritual.
Eine Kerze. Ein Spruch. Ein Moment der Einstimmung.
So weiß mein Inneres: Wir machen das nicht wie früher. Wir machen das neu.

Was mir hilft, wenn ich mich wieder verliere

🔵 Ich sage mir:

"Ich bin nicht wütend auf mein Kind. Ich bin wütend auf das Gefühl, wertlos zu sein."

🔵 Ich schreibe. Oder spreche es laut aus. Oder male es.
Weil meine Arthritis mir sonst sagt, was ich zu lange verschwiegen habe.

🔵 Ich erinnere mich:

Ich muss nicht lernen, Bastelmaterial zu lieben.
Ich muss nur aufhören, mich selbst dafür zu hassen, dass es mich überfordert.

Heute weiß ich: Ich bin nicht kaputt, weil ich Milchkartons hasse.

Ich bin nicht "kontrollsüchtig".
Ich bin nicht "ungeeignet zum Basteln mit Kindern".
Ich bin eine Frau, die ein sehr fein kalibriertes Nervensystem hat.
Ein System, das gelernt hat:

"Perfekt sein ist überlebenswichtig. Alles andere ist gefährlich."

Und ich bin eine Mutter, die genau dieses System heute liebevoll befragt:

"Willst du vielleicht mitkommen? In eine neue Welt?
In der ein Milchkarton nicht Bedrohung ist, sondern Einladung?
In der wir beide – du und ich – sicher sind, selbst wenn's klebt und fusselt?"

Manchmal antwortet mein System mit Ja.
Und manchmal mit Nein.
Beides ist okay.

Aber ich höre zu.
Und das verändert alles.

Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Mutterschaft - zwischen Liebe, Last und Lebenskraft]

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