Rettung aus dem Chaos - wie meine Pflegemutter mich zu sich holte

05.05.2025

Ich bin das jüngste Mädchen von insgesamt sechs Geschwistern – geboren in eine Familie, in der das Leben oft chaotisch war. Meine älteste Schwester lebte schon früh bei unserer Großmutter und war kaum Teil unseres Alltags. Die Geschwister dazwischen – mehrere Brüder und Schwestern – waren teils deutlich älter. Mit zwei von ihnen, beide ebenfalls Mädchen, verband mich etwas wie Vertrautheit. Vielleicht, weil wir als Mädchen in diesem unruhigen Zuhause besonders aufeinander angewiesen waren. Aber insgesamt fühlte ich mich oft allein.

Unsere Mutter hatte mit einer schweren Alkoholabhängigkeit zu kämpfen. Schon früh lernte ich, mich irgendwie durchzuschlagen. Mein leiblicher Vater war nicht präsent – aus dem Leben fast vollständig verschwunden. Stattdessen kamen immer wieder neue Männer ins Haus. Ich erinnere mich vage daran, wie sie mal auf der Couch schliefen, wie ich mich an ihnen vorbeischlich, wie ihre Blicke oder ihr Schweigen mir Unbehagen bereiteten. Ich wollte einfach nur weg. Am liebsten unsichtbar sein.

Dann kam der Moment, der alles veränderte. Meine Mutter musste in eine Klinik – plötzlich, ohne viel Erklärung. Und an ihrer Stelle erschien eine Verwandte, die bislang nur gelegentlich bei uns gewesen war. Sie trat freundlich auf, zugewandt, mit einer fast überschwänglichen Wärme. Sie nannte mich "mein kleines Herz", strich mir durchs Haar, machte mir Kakao und sagte, sie wolle mich beschützen – für immer. Ich war fünf Jahre alt und sog jede dieser Gesten in mich auf. Zum ersten Mal spürte ich so etwas wie echte Zuwendung. Es fühlte sich an wie Liebe. Vielleicht sogar wie Zuhause.

Als unsere Mutter zurückkam, war ich innerlich schon ganz woanders. Diese Verwandte – meine spätere Pflegemutter – redete mit ihr. Es gab Spannungen, Diskussionen, an die ich mich nur verschwommen erinnere. Kurz darauf durfte ich mit ihr gehen. Für mich war es ein Gefühl der Rettung. Ich fühlte mich ausgewählt. Besonders.

In ihrem Zuhause bekam ich ein eigenes Zimmer. Spielzeug. Regelmäßige Mahlzeiten. Struktur. Sie lobte mich oft. Zeigte mir, wie man sich "anständig" verhält, wie man spricht, isst, Hausaufgaben macht. Sie sagte oft, ich sei anders als die anderen – klüger, ruhiger, wertvoller. Und ich? Ich glaubte ihr. Ich war dankbar. Ich wollte gefallen.

Doch mit der Zeit veränderte sich etwas. Ihre Wärme wurde zur Erwartung. Ihre Liebe zu einem Maßstab. Und wehe, ich passte nicht mehr hinein. Aber das ist eine andere Geschichte.

Damals jedenfalls glaubte ich, sie sei meine Rettung.

Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Frühe Kindheit & Herkunft] 
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