Wenn mein Kind zur Projektionsfläche wird

12.06.2025

Wie ich mein Kind vor fremder Schuld schütze

Es begann mit einem Blick.
Nicht meinem. Sondern dem meiner Nachbarin.
Ein Blick auf mein erstes Kind – hart, abschätzend, fast strafend.
Ich verstand zuerst nicht, was da geschah. Doch mit der Zeit wurde mir klar:
Mein Kind wurde verwechselt.

Nicht absichtlich. Nicht bewusst.
Aber trotzdem: Sie machte mein Kind verantwortlich für Dinge, die andere getan hatten.
Für das Verhalten anderer Kinder.
Oder das der Familie.
Oder einfach das, was sich nie aufgelöst hatte in ihr.

💔 Wenn ein Kind zur Projektionsfläche wird

Es gibt ein psychologisches Phänomen, das Verwechslung oder auch Projektion genannt wird:
Erwachsene Menschen übertragen unbewusste Konflikte, Schuldgefühle oder Erwartungen auf andere – oft auf die, die am wenigsten damit zu tun haben: Kinder.

In unserem Fall: mein Kind.
Sie wird angesehen, als wäre sie nicht sie selbst – sondern ein Symbol.
Für alte Geschichten. Für ungelöste Themen. Für das, was nie ausgesprochen wurde.

Ich kenne das.
Denn ich war selbst ein solches Kind.
Ein Kind, das nicht gesehen wurde, wie es war – sondern nur in Rollen, in Erwartungen, in Zuschreibungen.
Ein Kind, das man zurechtbog, damit das Bild passte.
Ein Kind, das trug, was nicht ihm gehörte.

Und jetzt? Jetzt bin ich Mutter.
Und ich sehe es wieder.
Aber ich bleibe nicht mehr stumm.

✋ Ich schütze mein Kind – auch vor den leisen Projektionen

Ich spüre es, wenn meine Tochter aus der Schule kommt und ein Gefühl mitbringt, das nicht ihr gehört.
Wenn sie sich falsch fühlt, ohne zu wissen warum.
Wenn sie sich erklärt, ohne dass jemand gefragt hat.
Wenn sie plötzlich "brav" wird, nur um nicht zu stören.

Ich höre es in den Worten der Erwachsenen:

"Na, das hat sie wohl von dir."
"Sie ist ja auch nicht ganz einfach."
"Da erkennt man doch die Mutter…"

Nein.

Mein Kind ist nicht ich.
Mein Kind ist nicht dein Spiegel.
Mein Kind ist ein eigenes Wesen – frei, fühlend, neu.

🛡️ Den Kreislauf unterbrechen – mit Klarheit und Haltung

Ich habe lange geglaubt, ich müsse ruhig bleiben, diplomatisch, still.
Aber heute weiß ich:
Liebe bedeutet auch, sich dazwischenzustellen.

Zwischen die Vergangenheit und mein Kind.
Zwischen die Muster und die neue Generation.
Zwischen das, was war – und das, was nicht mehr sein soll.

Ich muss nicht laut werden.
Aber ich muss klar sein.

"Was du auf mein Kind legst, gehört nicht zu ihr.
Ich lasse es bei dir.
Sie bleibt frei."

Ich sage meinem Kind:

"Du musst niemandem gefallen, um richtig zu sein."
"Wenn dich jemand anschaut, als wärst du falsch – komm zu mir."
"Ich sehe dich."

Und ich sage mir:

"Ich bin jetzt die Erwachsene.
Und ich darf schützen, was ich selbst nicht hatte."

🔁 Projektion, Verwechslung, systemische Verstrickung – und der Wille zur Veränderung

Psychologisch betrachtet, ist das, was hier passiert, eine systemische Verstrickung.
Ein Mensch überträgt unbewusste Gefühle oder eine ungelöste Geschichte auf ein Kind – meist weil das eigentliche Gegenüber fehlt, oder weil die eigene Schuld zu schwer ist.

Im Sinne von Bert Hellinger entsteht so eine Verwechslung der Ordnung:
Ein Kind rückt innerlich an die Stelle der Mutter.
Oder wird zum Stellvertreter eines alten Konflikts.
Und trägt plötzlich etwas, das niemals seins war.

Doch wir können das durchbrechen.
Indem wir sehen, was geschieht.
Indem wir benennen, was nicht mehr weitergegeben werden soll.
Indem wir bleiben – klar, präsent, verbunden.

❤️ Ich entscheide mich – für mein Kind

Ich habe lange genug geschwiegen.
Lange genug geglaubt, dass sich Dinge von selbst verändern.
Aber die Wahrheit ist: Sie tun es nicht.

Nicht, wenn niemand widerspricht.
Nicht, wenn Kinder weiter in Rollen gedrängt werden, die ihnen nicht gehören.
Nicht, wenn wir wegsehen, weil es unbequem ist.

Deshalb schreibe ich.
Deshalb bleibe ich.
Und deshalb sage ich:

Du bist frei, mein Kind.
Frei von der Last, die nicht deine ist.
Frei, du selbst zu sein – mit allem, was du bist.

Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke: [Mutterschaft – zwischen Liebe, Last und Lebenskraft]
zum Weiterlesen hier → [Ein sicherer Hafen – und das leise Gift am Rand]