Zwischen uns lag der Sandkasten – und dann der Abgrund
Ein Kindheitsbruch zwischen Schwesterliebe und Fremdbild
Ich erinnere mich an Sommertage im Stadtpark. An meine Schwester, wie sie meine Hand nahm, mir half, die Schaukel zu erreichen. Sie war nicht viel älter, aber groß genug, dass ich mich an ihr orientieren konnte. Wir liefen durch Wiesen, schoben Puppenwagen, pflückten Gänseblümchen, als ob sie uns gehörten. Sie war die Nächste über mir – und zugleich mein vertrauter Planet.
Und dann – kam der Bruch.
Ich wurde herausgenommen. Aus dem, was man Herkunft nennt. Aus dem, was für mich vor allem eins war: Nähe. Ich kam zu meiner Tante. Zu der Schwester meiner Mutter.
Was man in solchen Fällen oft "Pflegemutter" nennt, wurde meine neue Bezugsperson. Und sie hatte viel zu sagen. Über meine Familie. Über meine Mutter. Über meine Schwester.
"Verlogen ist sie."
"Unzuverlässig, falsch, gefährlich."
"Du musst aufpassen, Kind."
Ich war vielleicht fünf. Oder sechs. Oder sieben. Mein Zeitgefühl hat sich damals verschoben. Aber was ich sehr genau weiß, ist: Diese Worte waren wie Splitter. Sie trafen nicht einfach meine Schwester – sie trafen mich. Weil ich doch in ihr war. Weil sie in mir war. Weil alles, was ich mit ihr geteilt hatte, nun wie verschattet wurde von einem Blick, der nicht meiner war.
Meine Tante sprach mit Bitterkeit. Aber nicht über mich. Sondern über meine Mutter. Über meine Schwester. Über "die da". Ich spürte: Das war ihr Krieg. Und ich war das Schlachtfeld.
Ich konnte das nicht einordnen – aber ich spürte die Spannung. Das Wegreißen. Die Kälte, mit der über eine Person gesprochen wurde, die mir einst warm war. Es war, als müsste ich mich schämen, dass ich sie geliebt hatte. Und mit der Scham kam die Loyalitätsverwirrung.
Ich lernte schnell: Wenn ich nichts sage, bleibe ich sicher.
Wenn ich mitlächle, bleibt der Ton ruhig.
Wenn ich innerlich abspalte, was ich fühle – bin ich eine "Gute".
Heute sehe ich: Ich habe damals nicht nur meine Schwester verloren, sondern auch mein eigenes inneres Bild von mir. Ich wurde entzweit – nicht nur von der Familie, sondern in mir selbst.
Aber heute bin ich erwachsen. Heute kann ich sagen:
Ich war Kind.
Ich war verbunden.
Und ich durfte lieben, wen ich liebte – bevor es mir verboten wurde.
Ich beginne, mir mein eigenes Bild zurückzuholen.
Meine Schwester, wie sie mir Sand in den Eimer schaufelt.
Wie sie mir zeigt, wie man rückwärts von der Rutsche rutscht.
Wie wir uns wortlos verstehen, weil das zwischen Geschwistern manchmal so ist.
Ich nehme diesen Teil zurück in mein Herz.
Nicht gegen jemanden – sondern für mich.
Denn nur wenn ich mir diese Liebe erlaube, kann ich heute auch in meinem Muttersein frei lieben. Nicht im Schatten alter Geschichten, sondern im Licht derer, die ich selbst schreiben darf.
🔸 Manchmal ist die Loyalität zu unserer Geschichte leiser als der Lärm über sie. Aber sie bleibt da. Und sie heilt, wenn wir sie hören.
Dieser Beitrag ist Teil der Wegmarke [Geschwister als Team]
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